Ein Engel mit Alibifunktion

von Michael Otto

Manche Menschen greifen bei der Dekoration ihres Wohn- oder Schlafzimmers auf Motive wie Engel oder Feen zurück, um „bestimmte” Bilder oder Kunstwerke zu rechtfertigen oder zu verschleiern. Diese Motive werden traditionell mit positiven Eigenschaften wie Unschuld, Reinheit und kindlicher Unbeschwertheit assoziiert. Durch ihre Präsenz soll der Eindruck entstehen, dass die Bilder, die Gemälde oder Poster harmlos und unschuldig sind, selbst wenn sie möglicherweise problematische Inhalte enthalten.

Ein Engel ? Ein nackter Junge ?

Die Grenzen sind fließend.

Beraubt man dem Amor seiner Flügel, so haben
wir nur noch einen nackten Knaben, der an einem
See steht.

 

 

„Jeune Cupidon” (Junger Amor) aus dem
Jahr 1891 von William Adolphe Bouguereau
Der Einsatz solcher Motive als „Alibi” kann dazu dienen, unangenehme Fragen zu vermeiden oder gesellschaftliche Akzeptanz zu gewinnen. Es ist jedoch wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Verwendung von Engeln, Putti und Feen in diesem Zusammenhang die Grenzen zwischen Kunst, kindlicher Unschuld und unangemessenen Darstellungen verwischen kann.

Sich ein Gemälde oder Poster eines Engels ins Schlafzimmer zu hängen, ist sicherlich einfacher, wie ein Bild eines nackten Kindes. Auf unangenehme Fragen kann man schnell antworten: „DAS IST EIN ENGEL ... und KEIN nacktes Kind”. Damit wäre die Alibifunktion voll erfüllt.
AmorNackter Junge
Amor als Sieger
... des Künstlers Caravaggio ging hier noch einen Schritt weiter, da er bei diesem Werk die Flügel des Amor recht dunkel gehalten hat, sie verschmelzen beinahe mit dem Hintergrund, werden dadurch fast belanglos und dienen mehr einer Alibi-Funktion zur eigentlichen Abbildung eines nackten Knaben. Nimmt man die Flügel ganz weg (wie ich es hier mit einem Bildbearbeitungsprogramm getan habe) wird diese Argumentation noch deutlicher, das Bildnis des nackten Jungen wirkt nun „unanständig”. Eine derartige Darstellung eines nackten Jungen, dazu noch als Fotografie in der heutigen Zeit ? - undenkbar !

Gleiches gilt natütlich auch für andere Darstellungen des menschlichen Körpers, zum Beispiel als Faun, Pan, Fee, Elfe, Zentaur oder Minotaurus.

 

zurück